Im September 2021 durfte ich eine Veranstaltung erleben, die von einer ganzen Chorszene sehnlich erwartet wurde. Diese findet nur alle 2 Jahre statt, zuletzt wenige Monate vor Ausbruch der Pandemie (nämlich im September 2019). Es geht um die chor.com, das größte europaweite Fachtreffen der Vokalmusikszene, organisiert vom Deutschen Chorverband. Fast 1000 Teilnehmer reisten für zwei bis vier Tage nach Hannover – seit 2014 UNESCO City of Music - und zogen Bilanz aus 24 außergewöhnlichen Monaten.
Inhalt
Seit der ersten Auflage im Jahr 2011 – damals noch in Dortmund – hat sich die chor.com als wichtiger Termin für Musikpädagogen, Chorleiter, Chormanager, Musikverlage u.v.m. etabliert. Brennende Themen der Chormusik sind auf der chor.com präsent. Gleich ob es sich um Repertoire handelt - dieses Jahr wurde der Fokus auf nordische Chormusik gerichtet, die zwar seit langem keine unbekannte Rarität mehr darstellt, jedoch nach wie vor von Publikum und Chorsängern gerne gehört und gesungen wird, - um historische Aufführungspraxis – wie instrumentiere ich alte Musik, wenn der Komponist keine Angabe gemacht hat - ? oder ob es um genre-übergreifende Themen geht wie Nachhaltigkeit im Chor oder um LGBTQIA+ in der Chorwelt, die Breite der angesprochenen Themen erinnert an die wunderbare ACDA National Convention unserer US-amerikanischen Kollegen. Solche Konferenzen sind für die Lebendigkeit der Chorszene unabdingbar. Manche Themen sind (noch) ausgefallen, und schnell würde man denken, niemand interessiere sich dafür außer man selbst. Dabei brennen womöglich 10 weitere Menschen genau für diesen neuen Komponisten, jenen Aspekt oder genau diese neue Idee, wohnen aber nun einmal 1000 km weiter weg und suchen genauso eifrig und erfolglos in ihrer Region nach einem Gesprächs- oder Kooperationspartner. Auf einem Fachtreffen werden Interessengemeinschaften geboren und Projekte geschmiedet, die die Chorszene weiterbringen.
Mittlerweile sind durch die Vielfalt der Dozenten viele Workshops in englischer Sprache, was ein Besuch der chor.com auch für nicht-deutschsprachige Interessenten möglich macht.
Emotion
Besonders beeindruckt und glücklich war ich – und damit spreche ich glaube ich für viele meiner Gleichgesinnten – über das Wiedersehen mit den Kollegen. Endlich war ein live-Austausch möglich. Endlich wurde man von anderen Themen umgeben als von „wie geht es weiter?“, „dürfen Sie wieder proben?“, „welche ist die beste Software für online-Proben“? Endlich bekamen die Akteure der Chorszene offline-Impulse angeboten, die sie gesucht haben – und auch welche, die sie nicht aktiv suchten – die aber lebendig machen, weil sie eben neu und unerwartet sind. Es hat sich für viele „Chormenschen“ wie ein Spaziergang an der frischen Luft angefühlt, nach 2 Jahren zwischen vier Wänden.
Emotion gab es in der diesjährigen chor.com natürlich auch musikalischer Art: neben Workshops und Dirigiermeisterkursen bot die 4-tägige Veranstaltung eine Reihe von hochkarätigen Konzerten an. In Deutschland waren in letzter Zeit die Regeln je nach Bundesland oft etwas unterschiedlich, doch kann man grundsätzlich sagen: überall wurden Konzerte sehr lange untersagt. Schüchtern fing das Musikleben im Sommer 2021 wieder an – mit Abstand, Maske, Anmeldung, Kontaktverfolgungszetteln, beschränkter Konzertdauer… Auch auf der chor.com durften Kirchen und Konzertsäle nur teilweise gefüllt werden (Workshopräume übrigens auch, und hier gehört ein großes Lob an das Team des Deutschen Chorverbands, das eine noch nie so komplizierte Organisation auf sich nahm, um die Veranstaltung überhaupt möglich zu machen). Es bildeten sich Schlangen, Konzerte waren nur mit Karten zu besuchen. Aber sie fanden statt, und viele Teilnehmer haben bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal seit 2 Jahren auch Ensembles aus dem Ausland wieder live erlebt. Wenn ich von den Erfahrungen meiner Kollegen höre, bekomme ich das Gefühl, dass ich im beeindruckendsten Konzert des ganzen Events sitzen durfte, und so fühlte es sich auch an: die Klänge des Norwegian Soloists‘ Choir unter der Leitung von Grete Pedersen fesselten mich eine Stunde lang auf meinem Stuhl und erinnerten mich wahrhaftig an den Sinn der ganzen Organisationsarbeit, der vielen Hygienekonzepte, der hunderte von gekauften Tests und des Abmessens von Abständen zwischen Orchesterstühlen. Ich bin für dieses Konzert unendlich dankbar, aber auch für die weiteren Auftritte von den Barberpapas und dem Collegium Vocale Gent, die mein Herz in Hannover mit Musik und Wärme erfreut haben.
Inspiration
Wie viele der Treffen unserer Chorverbände ist die chor.com nicht nur bloß ein Punkt im Chorleiterkalender. Sie ist eine wunderbare Mischung aus „Plaudern in der Büroküche“, „Hospitieren bei den Kollegen“, „Brainstorming über besondere Themen“, „die besten Chöre hören“, „Unerwartetes Entdecken“ und natürlich auch ausführlichem Stöbern bei den Notenverlagen auf die Suche nach neuem Stoff. Aus dieser Veranstaltung sind fast eintausend Menschen erfüllt nach Hause gefahren, mit einem ordentlichen Motivationskick und der Versicherung, dass es die Szene noch gibt, dass eine Pandemie keine Chormusik zu Schweigen gebracht hat, und dass die Chororganisationen in der Zeit nicht inaktiv waren, ganz im Gegenteil. Wir bei der IFCM wünschen uns und Ihnen allen, dass bald die Entwicklung der Pandemie das Abhalten solcher Veranstaltungen wieder möglich machen wird. Auf unserem Kalender steht auf jeden Fall schon eine fest: die World Choral Expo in Lissabon im September 2022, auf der die IFCM auch Geburtstag feiern wird – mit Inhalt, Emotion und Inspiration.
[1] siehe Fokus im ICB 2021-3 von Juli 2021
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