Das Weltsymposium für Chormusik (WSCM) 2023 in Istanbul, Türkei, war Zeuge einer bemerkenswerten Aufführung, die sowohl beim Publikum als auch bei den Musikschaffenden selbst einen bleibenden Eindruck hinterließ. Die Georgia State University Singers unter der Leitung der talentierten Chorleiterin Professor Deanna Joseph hatten die Ehre, Özkan Manavs fesselnde Komposition „Ich höre Istanbul“ uraufzuführen. Dieses Stück verbindet auf wunderbare Weise die reiche Vielfalt der türkischen Kultur mit zeitgenössischer Chormusik.
Wir führten ein exklusives Interview mit Prof. Deanna Joseph und dem Komponisten Özkan Manav, um Einblicke in deren individuelle Wahrnehmung dieser unvergesslichen Aufführung zu erhalten. Wir sprachen über ihre Erfahrungen, die Herausforderungen bei der Vorbereitung, die Bedeutung dieser zeitgenössischen Chorkomposition und die Verbindung zwischen dem Chor und der Musik von Özkan Manav.
Özkan Manav erzählte, warum er sich für das berühmte Gedicht von Orhan Veli entschieden hat und wie wichtig es ist, moderne türkische Literatur in die Chormusik einfließen zu lassen. Prof. Joseph sprach über den Weg, den der Chor bei der Bewältigung dieses komplizierten Stücks zurückgelegt hat, über die Verschmelzung traditioneller und avantgardistischer Elemente und über die bedeutungsvolle Verbindung zur türkischen Kultur.
Gemeinsam beleuchteten sie die universelle Sprache der Musik und die tiefgreifende Wirkung, die diese dabei hat, Menschen auf der ganzen Welt zu verbinden.
Wie haben Sie diese Aufführung aus Ihrer Sicht als Chorleiterin bzw. als Komponist dieses zeitgenössischen Werks erlebt?
Joseph: Es war eine große Ehre, Özkan Manavs „Ich höre Istanbul“ auf dem Weltsymposium für Chormusik 2023 uraufzuführen. Es war eine Erfahrung, die die Chormitglieder und ich ein Leben lang in Erinnerung behalten werden … die Uraufführung dieses atemberaubenden und innovativen Stücks über Istanbul … in der Stadt, für die es geschrieben wurde, und vor so vielen Menschen aus der Türkei war eine sehr tiefgehende und erfüllende Erfahrung. Viele der Effekte des Stücks – die Vogelstimmen zum Beispiel - wurden für uns erst richtig lebendig, als wir in der Stadt landeten und herumliefen – wir konnten endlich die Geräusche der Stadt selbst hören. Viele der Sängerinnen und Sänger sagten sofort: „Ich höre die Vögel … sie sind hier!“
Manav: „Ich höre Istanbul“ ist eine Komposition für achtstimmigen Chor und zwei Rezitatoren. Deanna Joseph ermutigte mich, als sie anmerkte, dass sie bereits Erfahrung mit achtstimmigen Chorsätzen hätten. Allerdings gibt es in dieser Komposition auch einen Kontrapunkt mit zwei Rezitatoren. Die Rezitatoren – eine flüsternde Frauenstimme, gefolgt von einer Männerstimme in normalem Ton – rezitieren das berühmte Gedicht des zeitgenössischen türkischen Dichters Orhan Veli.
Die Georgia State University Singers boten eine wunderschöne Uraufführung meines Stücks im großen Saal unseres neu errichteten Atatürk-Kulturzentrums. Das Publikum füllte den Saal und empfing uns mit großer Begeisterung. Der Beifall am Ende der Aufführung galt nicht nur meinem Stück, sondern uns allen, den talentierten Sängern und Sängerinnen, ihrer faszinierenden Chorleiterin, ihrem gut durchdachten, glänzend vorbereiteten Programm und meinem Stück – allem zusammen. Das ist es, was ich fühlte. Nach dem Konzert gratulierten mir viele Menschen, von denen ich viele noch nie zuvor getroffen hatte.
Wie sah der Vorbereitungsprozess für dieses Stück aus? Gab es bei der Vorbereitung irgendwelche bemerkenswerten Unterschiede zu einem klassischen Chorstück?
Joseph: Das Stück hat uns in vielerlei Hinsicht herausgefordert – sowohl die Tonhöhen als auch die Rhythmen waren anspruchsvoll und der türkische Text war für alle Studierenden neu. Wir haben eine Muttersprachlerin in Atlanta ausfindig gemacht und sie gebeten, eine Aufnahme des Textes zu machen, mit der wir die richtige Aussprache üben konnten. Auch das Tempo war eine Herausforderung, da das Stück zu einer Aufnahme des gesprochenen Textes auf Türkisch aufgeführt werden musste, was ein genaues Timing erforderlich machte. Sobald die Tonhöhen und Rhythmen gefestigt waren, übten wir viel mit der Aufnahme, um sicherzustellen, dass das Timing perfekt war. Die erweiterten Gesangstechniken in dem Stück waren ein zusätzliches Element … Den Sängerinnen und Sängern hat es Spaß gemacht zu lernen, wie man sie umsetzt und das Stück vollständig zum Leben erweckt.
Für Chöre zu komponieren stellt eine besondere Herausforderung und zugleich eine Chance dar. Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Aspekte beim Schreiben von Kompositionen speziell für Chöre?
Manav: Ich erinnere mich an die Bemerkung eines Flötisten in einem Dokumentarfilm über zeitgenössisches Flötenspiel. Er erklärte, dass die Flöte, die den Atem des Interpreten direkt widerspiegelt, das unmittelbarste, direkteste Musikinstrument ist. Doch die menschliche Stimme ist noch direkter. Sie spiegelt den Atem eines Menschen auf die direkteste Weise wider und bringt dessen Gefühle in ihrer klarsten Form zum Ausdruck.
Die menschliche Stimme ist die direkte Erweiterung des menschlichen Herzens. Beim Weltsymposium für Chormusik im Jahr 2023, das meine erste Mitwirkung in dieser riesigen Organisation war, war ich überrascht zu sehen, wie leicht sich die Menschen einander annähern, wie leicht sie sich anfreunden und miteinander umgehen. Ich hätte nicht überrascht sein sollen, denn was sie zusammenbrachte, war die menschliche Stimme. Wenn Menschen gemeinsam singen, werden sie zu einem eigenständigen neuen Wesen. Das ist das Einzigartige daran, eine Komposition für einen Chor zu schreiben.
Wie hat der Chor Manavs Musik wahrgenommen und wie ist er dieser Musik nahegekommen, vor allem angesichts der zeitgenössischen und türkischen Elemente und der Tatsache, dass das Stück auf Türkisch geschrieben ist?
Joseph: Der Chor hatte ein solches Stück noch nie zuvor aufgeführt, und wir haben alle sehr viel aus dieser Erfahrung gelernt. Manavs Musik ist sehr spezifisch – jedes Detail ist genau festgelegt und es gibt klare Anweisungen, wie jedes Element auszuführen ist. Dieses Stück war eine Mischung aus Neu und Alt, aus Tradition und Avantgarde, aus Sentimentalem und Nüchternem. Mir gefiel, dass der Kompositionsstil so einzigartig war.
Wir konnten uns Aufnahmen türkischer Chöre anhören, die die traditionelle Melodie sangen, die sich durch das Stück zieht, was uns den Kontext lieferte und uns sehr bei Stil und Aussprache half. Es war beeindruckend, nach der Aufführung Rückmeldungen von türkischen Zuhörern zu bekommen, die sagten: „Ich konnte die Melodie darin heraushören!“. Das hat uns wirklich viel bedeutet und die Aufführung noch eindrucksvoller gemacht.
Herr Manav, in Ihre Kompositionen fließen in der Regel Elemente der türkischen Volksmusik oder der türkischen klassischen Musik ein. Könnten Sie vielleicht näher erläutern, warum Sie sich dieses Mal für ein zeitgenössisches, symbolträchtiges Gedicht aus der türkischen Kultur, wie das von Orhan Veli, entschieden haben?
Und könnten Sie für diejenigen, die das Gedicht vielleicht nicht kennen, erläutern, was es für Sie bedeutet und was sein zentrales Thema ist?
Manav: Ich habe mich für ein Gedicht aus der modernen türkischen Literatur entschieden, die ich viel besser kenne als jede andere Literatur. Als ich durch die Gedichte von Orhan Veli stöberte, dachte ich, dass „Ich höre Istanbul“ eine besondere Bedeutung für das Istanbuler Treffen des WSCM haben könnte. Während Istanbul (das Publikum) den Stimmen der Welt lauschte, konnten Chormusikfans aus der ganzen Welt durch Orhan Velis Verse, eingebettet in meine Musik, Istanbul zuhören. Während der Arbeit an dem Stück dachte ich immer wieder daran, dass die Bilder in Orhan Velis Gedicht, das vor genau 75 Jahren geschrieben wurde, immer noch ihre Frische und Vitalität bewahrt haben. Diese Bilder waren nicht nur mit der visuellen Szenerie der Stadt und ihrer Menschen verwoben, sondern auch mit ihren Klängen. Es war an der Zeit, Orhan Velis Bilder in diesem Gedicht in Musik zu verwandeln. Ich musste sie nur noch umhüllen, sie mit der menschlichen Stimme in meinen Ohren verschmelzen lassen.
Welchen Beitrag leistet das Projekt für die Welt der Chormusik im weiteren Sinne und im Hinblick auf die Förderung zeitgenössischer Kompositionen aus verschiedenen Teilen der Welt?
Joseph: Ein Stück aus der Türkei zu leiten, hatte für mich eine besondere Bedeutung. Es war eine Ehre und eine Freude, die Uraufführung eines Auftragswerks in seinem Ursprungsland zum Leben zu erwecken. Ich bin dem WSCM dankbar dafür, dass es all diese Auftragswerke zur Aufführung bringt und die Schaffung und Darbietung neuer Chorwerke aus der ganzen Welt unterstützt. Dies ist ein Teil dessen, was ich als die Rolle einer Chorleiterin oder eines Chorleiters und unserer beruflichen Organisationen betrachte.
Über die Chorleiterin Dr. Deanna Joseph und die Georgia State University Singers
Dr. Deanna Joseph ist Professorin für Musik und Leiterin der Chorabteilung an der Georgia State University School of Music, wo sie die University Singers leitet und den Masterstudiengang für Chorleitung betreut. In einer kürzlich erschienenen Rezension ihrer Arbeit heißt es: „Der Chor singt mit großer Musikalität, ausgezeichneter Intonation, klarer Diktion und einer reichen und herrlichen Palette von Klangfarben …“ (The Choral Scholar).
Die international preisgekrönten Georgia State University Singers (Atlanta, Georgia, USA) sind das führende Vokalensemble der School of Music. Die Aufnahme in den fünfundvierzigköpfigen Chor erfolgt durch Vorsingen und repräsentiert die vielfältige Studierendenschaft der Georgia State University. Im April 2023 wurde der Chor als eines von zehn Ensembles aus der ganzen Welt ausgewählt, um beim WSCM in Istanbul, Türkei, aufzutreten. Im Mai 2017 gewannen die University Singers während einer Tournee durch Österreich und Deutschland den ersten Platz beim renommierten Internationalen Kammerchorwettbewerb Marktoberdorf. Im Mai 2013 nahmen die University Singers am La Florilège Vocal de Tours teil, wo sie den zweiten Platz in der Kategorie Gemischter Chor belegten. Die drei professionellen Aufnahmen des Chors, Evening Hymn (2016), Heavenly Display (2019) und Requiem (2023), wurden von Gothic Records veröffentlicht und sind auf allen Streaming-Plattformen wie iTunes und Spotify verfügbar. https://music.gsu.edu/choir/
Über den Komponisten Özkan Manav
Ali Özkan Manav, geboren am 20. Mai 1967 in Mersin, studierte Komposition in Istanbul am Staatlichen Konservatorium der Mimar Sinan Universität bei Ahmed Adnan Saygun und Ilhan Usmanbaş. Nachdem er ein Vollstipendium des Hochschulrates in Ankara erhalten hatte, promovierte er bei Lukas Foss und Marjorie Merryman an der Boston University (1996-99). Seit 1991 unterrichtet er an seiner Alma Mater, dem Istanbuler Staatskonservatorium der Mimar Sinan Universität der Schönen Künste.
Sein Orchesterwerk Sforzati wurde 1999 in München mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Rahmen der Konzertreihe „musica viva“ uraufgeführt. Nachdem er 2002 den Kompositionspreis der Deutschen Welle erhalten hatte, wurde ein weiteres Orchesterwerk, Portamento lento, beim Beethovenfest in Bonn uraufgeführt. Seine Orchesterfassung von Ali Ekber Ciceks Haydar Haydar wurde von der Türkischen Nationalen Jugendphilharmonie auf ihrer Europatournee 2017 uraufgeführt und vom London Philharmonic Orchestra im neuen Konzertsaal des Presidential Symphony Orchestra in Ankara sowie im Eröffnungskonzert des Istanbuler Atatürk-Kulturzentrums im Herbst 2021 gespielt. https://ozkanmanav.com
Sinem Erentürk begann ihre Karriere als junge Journalistin bei der damals einzigen englischsprachigen Zeitung der Türkei. Danach wechselte sie in die pharmazeutische Industrie, wo sie 15 Jahre lang in verschiedenen Positionen tätig war, wobei sie sich in den letzten Jahren vor allem auf Strategie und Multi-Channel-Marketing konzentrierte. Ihr Leben änderte sich dramatisch, als sie Mutter von Zwillingsjungen wurde und vor sechs Jahren mit ihrer Familie nach London umzog, wo sie Mitglied einer lokalen Schriftstellergruppe in Richmond, London, ist. Sinem Erenturk singt seit ihrem achten Lebensjahr in verschiedenen Chören, von Kinder-, Mädchen- und Jugendchören in ihrer Heimatstadt Ankara bis hin zu gemischten Chören in Istanbul. Derzeit ist sie Mitglied eines philharmonischen Chors in Südwest-London. Vor kurzem übernahm Sinem Erenturk die Rolle der Kommunikationsleiterin für den erfolgreichen Start des WSCM Istanbul 2023. Als begeisterte Chorsängerin und Mitglied des Präsidiums der IFCM freut sie sich darauf, neue Perspektiven in die weltweite Förderung der Chormusik einzubringen. Sie sieht die Chormusik zusammen mit den kollektiven Künsten als einen entscheidenden Katalysator für eine wirklich vernetzte Welt. sinemerenturk@gmail.com
Übersetzt aus dem Englischen von Astrid Fieß, UK
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