Die Kolonisierung Brasiliens durch die Portugiesen geschah in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Doch erst gegen Ende des 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts führten Vorstöße ins Landesinnere zur Entdeckung zahlreicher Goldminen und großer Diamantenvorkommen. Diese Region, die noch heute den Namen Minas Gerais(allgemeine Minen) trägt, erlebte damals einen gewaltigen Zustrom von Menschen, die allesamt von der Aussicht auf Reichtum angelockt wurden. Im 18. Jahrhundert zogen mehr als 400.000 Menschen durch ihre Straßen: Brasilianer aus allen Regionen, Portugiesen, Indigene und versklavte Afrikaner. Historiker behaupten, dass Brasilien zu dieser Zeit der größte Goldproduzent der Welt und dass die Menge der nach Europa gebrachten Diamanten unermesslich war. (Bueno, 2012, p.176 a 189).
Infolge dieses enormen Zustroms von Menschen entstanden zahllose Dörfer und Städte mit einem intensiven gesellschaftlichen und religiösen Leben. In diesen Kontext wurde José Joaquim Emerico Lobo de Mesquita, in der Mitte des 18. Jahrhunderts, in der Region um Diamantina (Minas Gerais) geboren. Die ersten Informationen über sein Leben finden sich in Anstellungsbüchern für die Arbeit als Musiker bei Festen der Stadt Serro ab 1765. Dort war er als Organist, Dirigent und Komponist tätig. Im Jahr 1798 wurde er vom Dritten Orden der Karmeliter in der Stadt Vila Rica (heute Ouro Preto) angestellt, was seinen Umzug in diese Stadt bedingte. Hier war er für die Komposition von Musik für alle Festlichkeiten der Bruderschaft sowie für die Anstellung der Musiker zuständig. Dort arbeitete er ebenfalls für die Bruderschaft des Allerheiligsten Sakraments. 1801 wurde er vom Dritten Orden der Karmeliter als Organist nach Rio de Janeiro berufen, was einen erneuten Ortswechsel mit sich brachte. Für diese Institution arbeitete er dann bis zu seinem Tod im Jahr 1805 (Pires, 2010, S. 52-54). Lobo de Mesquita gilt als einer der wichtigsten brasilianischen Komponisten seiner Zeit. Der Musikwissenschaftler Paulo Castagna bemerkt, dass "seine Musik das Ideal der geistlichen Musik dieser Zeit verkörpert" (Castagna, 2010, S. 59). Die Existenz von mehr als hundert Abschriften seiner Werke in Archiven von Minas Gerais, Goiás, Rio de Janeiro und São Paulo, die im 18. und 19. Jahrhundert angefertigt wurden, beweist die Anerkennung und Verbreitung seines Werks. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts gehörten seine Werke zum Repertoire der musikalischen Vereinigungen in den Städten des Landesinneren (Neves, 1998, S. 3).
Die Werke von Lobo de Mesquita folgen europäischen Vorbildern des 18. Jahrhunderts. Verschiedene Autoren weisen auf musikalische Elemente hin, die das im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts in Minas Gerais komponierte geistliche Repertoire als Übergang vom Barock zum klassischen Stil kennzeichnen. Pires bemerkt, dass "das Werk von Lobo de Mesquita beispielhaft zeigt, dass es keinen klaren Bruch zwischen Barock und Klassizismus gab, insbesondere nicht im Bereich der religiösen Musik" (PIRES, 1994, S. 122), und dass die formale Struktur seiner Produktion dem Klassizismus nahe steht, während die Verwendung des bezifferten Generalbasses, die Instrumentierung, die klare Beziehung zwischen Musik und liturgischem Text sowie die rhythmisch-melodischen Bögen allesamt dem Barockstil zuzuordnen sind.
Da Brasilien eine portugiesische Kolonie war, war es für die Komponisten von Minas Gerais selbstverständlich, sich an der europäischen Metropole zu orientieren. Portugal wiederum stand in engem Kontakt mit der italienischen Produktion, insbesondere der neapolitanischen. Verschiedene Autoren machen auf eine Transformation aufmerksam, die sich durch diese zwei Einflusssphären ergab.
Laut Grout & Palisca war in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts der italienische Einfluss tonangebend. Sie stellen fest, dass "am Ende der Barockzeit die europäische Musik zu einer internationalen Sprache mit italienischen Wurzeln geworden war" (Grout & Palisca, 2001, S. 308-309). Ab der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts mehren sich die Anzeichen für eine Umkehr dieses stilistischen Einflusses vom Süden (Neapel) auf den Norden (Wien), da der Norden (Wien) allmählich den Süden (Neapel) beeinflusst. In dieser späten Periode wurde der neapolitanische Musikgeschmack immer mehr als veraltet angesehen (Benedetto & Fabris, 2005).
Es ist jedoch wichtig festzuhalten, dass Neapel und Wien nicht zwei voneinander getrennte Zentren waren und dass die intensive gegenseitige Beeinflussung, die seit Beginn dieser Periode stattfand, auch politische Ursachen hatte. Neapel entzog sich der spanischen Herrschaft, unter der es seit 1503 gestanden hatte, und wurde zwischen 1707 und 1734 von Österreich beherrscht, um später wieder zur Hauptstadt des Königreichs zu werden. Laut Benedetto & Fabris konnte sich diese Stadt in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts neben Venedig als wichtigstes musikalisches Zentrum Italiens etablieren (Benedetto & Fabris, 2005).
Bei Lobo de Mesquita scheinen sich zwei Elemente der formalen Gestaltung zu überlagern, eines, das auf klassische Verfahren mit einer harmonischen Strukturierung kontrastierender tonaler Zentren hinweist und eines, das Spuren barocker Ästhetik enthält, wie die Zusammenführung kontrastierender Takte und Tempi im selben Abschnitt eines Werks, als Ausdrucksmittel für die im Text vorhandene Ideen.
Die Verwendung rhetorischer Figuren ist in vielen Messen des 18. Jahrhunderts zu beobachten. Die Komponisten strebten danach, verschiedene Emotionen auszudrücken, wie Freude, Leid, Stärke, Demut usw. MacIntyre stellt fest, dass vor allem in Sätzen wie dem Gloria und dem Credo die musikalische Rhetorik des Barocks lebendig ist, vor allem wegen der Worte, die Möglichkeiten für Hypotiposis, Exclamatio, Parrhesia, Pathopeia, Noema, Suspiratio bieten (MacIntyre, 1986, S. 122). Obwohl der Ausdruck von Gefühlen immer ein Anliegen war, glaube ich nicht, dass eine direkte Übertragung dieser rhetorischen Figuren auf die in der zweiten Hälfte des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts komponierten Werke möglich ist. Bartel stellt fest, dass die Komponisten dieser Zeit eine freiere Interpretation dieser Vorstellungen bevorzugten (Bartel, 1997, S. 56). Deshalb wollen wir dieses Mittel in diesem Aufsatz als Wortmalerei bezeichnen. Wir glauben, dass der Komponist diese Mittel im Nachhall einer Tradition verwendete, die in fast allen Werken dieser Zeit zu spüren war, dass es sich also nicht um eine bewusste Wahl eines im Barock entwickelten Musters handelt. Der europäischen Tradition folgend ist die Verwendung der Wortmalerei am deutlichsten in den Abschnitten des Gloria, Credo der Messen von Lobo de Mesquita zu sehen (Rocha, 2014, S. 209).
Bei den Gloria-Passagen seiner Messen können wir die Verwendung von punktierten und daktylischen Rhythmen für den homophonen Ausruf über das Wort Gloria beobachten. Der Sinn der Worte et in terra pax (und Frieden auf Erden) und bonae voluntatis (guten Willens) wird durch eine tiefere Lage mit langen Noten und sanfter Dynamik vermittelt. Um den Eindruck des Flehens bei den Worten Qui tollis peccata mundi, miserere Nobis (du nimmst hinweg die Sünden der Welt: erbarme dich unser) zu unterstreichen, wiederholt der Komponist mehrmals das Wort miserere. Wir können hier eine harmonische Instabilität beobachten, deren harmonische Stufen durch sekundäre Dominanten erreicht werden.
In den Abschnitten des Credo verwendet der Komponist in der Instrumentation aufsteigende melodische Figuren für die Begleitung des Satzes Credo in unum Deum, Patrem omnipotentem (Ich glaube an Gott, den allmächtigen Vater), um einen Ausdruck der Begeisterung zu erzeugen. Absteigende Gesangsmelodien für den Passus descendit de coelis (vom Himmel herabgestiegen) sind ebenfalls als Wortmalerei zu werten. Besondere Aufmerksamkeit widmet Lobo de Mesquita dem zentralen Abschnitt des Credos, in dem das Mysterium und Leiden Jesus Christi beschrieben werden. Im Passus Et incarnatus est de Spiritu Sancto, ex Maria Virgine (und hat Fleisch angenommen vom Heiligen Geist und der Jungfrau Maria) können wir eine Reduzierung der instrumentalen Besetzung (mit Ausnahme der Blasinstrumente) und eine harmonische Instabilität beobachten. Der Satz Crucifixus etiam pro nobis, sub Pontio Pilato et sepultus est (für uns gekreuzigt unter Pontius Pilatus und begraben) zeichnet sich durch einen starken Kontrast zwischen dem Bild der Kreuzigung und dem der Bestattung Jesu Christi aus. Er bietet eine ausgezeichnete Gelegenheit für die Verwendung ausdrucksstarker Klangbilder, die vom Komponisten entsprechend genutzt wird. Das Wort Crucifixus wird dabei – von Pausen unterbrochen - mehrfach wiederholt, mit melodischen Sext- und Oktavsprüngen sowie wehklagenden Melismen. Bei den Wörtern Passus und sepultus zeichnen sich die Vokalstimmen durch lange, von Pausen unterbrochene Töne und eine tiefe Lage aus. Der festliche Charakter der Worte Et resurrexit tertia die, secundum Scripturas, der die Auferstehung Christi beschreibt, herrscht in allen Werken Lobo de Mesquitas vor, wobei er Klangbilder mit aufsteigenden Dreiklangs-Arpeggien verwendet und den Text mehrmals wiederholt.
Wir haben kaum Informationen darüber, wie die Komponisten von Minas Gerais im 18. Jahrhundert ausgebildet wurden oder wer ihre Lehrmeister waren. Insofern kann man über die direkten Einflüsse auf Lobo de Mesquitas Werk nichts Genaueres sagen. In diesem Aufsatz haben wir versucht, Ähnlichkeiten zur europäischen Produktion dieser Zeit aufzuspüren, um besser zu verstehen, was die Werke dieses Komponisten auszeichnet. Die Verwendung rhetorischer Figuren, um die im Text enthaltenen Ideen auszudrücken, ist vielleicht das charakteristischste Merkmal seiner Produktion. Eine Analyse dieses Stilmittels in den Gloria- und Credo-Passagen seiner Messen ist Beleg für den barocken Einfluss auf sein Werk.
Julio Moretzsohn ist Professor für Chorleitung und Kammermusik an der Universidade Federal des Bundesstaates Rio de Janeiro (UNIRIO), wo er 2008 mit der Arbeit As Missas de J. J. Emerico Lobo de Mesquita: um estudo estilísticoseinen Doktortitel auf dem Gebiet der Struktur des musikalischen Ausdrucks erwarb. In dieser Einrichtung koordiniert er das Projekt zur Erweiterung des UNIRIO-Jugendchors und das Projekt Ensino Coral Oficina UNIRIO (Workshop Chorleitung), das auf die Ausbildung junger Sänger und Chorleiter abzielt. Als Dirigent des Vokalensembles Calíope, das er seit seiner Gründung im Jahr 1993 leitet, gewann er den 7. Carlos-Gomes-Preis (2002) in der Kategorie Chöre und Vokalensembles. Mit diesem Ensemble spielte er die CD Música Brasileira e Portuguesa do Século XVIII (1998) ein, sowie die CDs Sábado Santo (2001), Quinta-feira Santa (2002) und Música Fúnebre (2003), mittels des Museums Musica de Mariana, die CD Música Sacra de Henrique Oswald e Alberto Nepomuceno (2005) unter dem Label Rádio MEC sowie die CD Villa-Lobos - Vozes do Brasil - obra coral profana(2012), gesponsert von Petrobras.
Mit Calíope vertrat er Brasilien auf Einladung des Itamaraty im Jahr 2001 in Santiago de Chile, 2005 auf einer Tournee durch Frankreich und in der brasilianischen Botschaft in Berlin (Deutschland) und 2008 auf dem Chiquitos Festival in Bolivien. Im Jahr 2009 gab er auf Einladung der Calouste-Gulbenkian-Stiftung Konzerte in Portugal, und auf Einladung der Sociedad Filarmónica de Badajoz in Spanien. 2003 gründete Moretzsohn den Coro Sinfônico do Rio de Janeiro, der aus Sängern mit lyrischer Ausbildung besteht und mit dem Petrobras Symphony Orchestra und dem Brazilian Symphony Orchestra auftritt. Mit dieser Gruppe hat er schon mit Dirigenten aus Brasilien und dem Ausland zusammengearbeitet.
Von 2010 bis 2016 entwickelte er das Kinderchorprojekt des brasilianischen Symphonieorchesters. Als Gastdirigent leitete er die Camerata de Curitiba und den OSESP-Chor geleitet. julio.moretzsohn@unirio.br
Übersetzt aus dem Portugiesischen von Reinhard Kißler, Deutschland
QUELLENANGABEN
BARTEL, Dietrich. Musica poetica: musical-rhetorical figures in German baroque music. Nebraska: University of Nebraska Press, 1997.
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PIRES, Sérgio. Lobo de Mesquita e a música colonial mineira, 1994. Dissertation (Mestrado em Musicologia Histórica) - Conservatório Brasileiro de Música, Rio de Janeiro.
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ROCHA, Julio Cesar Moretzsohn. Missa a 4 vozes para Quarta-Feira de Cinzas com violoncelo obbligato e órgão de J. J. Emerico Lobo de Mesquita: um estudo interpretativo. Dissertação de Mestrado - Programa de Pós-Graduação em Música, Universidade Federal do Estado do Rio de Janeiro. 1997.
______. As missas de J.J. Emerico Lobo de Mesquita: um estudo estilístico. Tese de Doutorado – Programa de Pós-Graduação em Música, Universidade Federal do Estado do Rio de Janeiro. 2008.
______. Palavra cantada: estudos transdisciplinares. Organização Cláudia Neiva de Matos, Fernanda Teixeira de Medeiros, Leonardo Davino de Oliveira, Rio de Janeiro: EdUERJ, 2014.
Musical works
Site: IMSLP.ORG
Matinas para Sábado Santo
S, A, T, B, violino I, violino II, baixo contínuo e 2 trompas
2. Missa em Fá Maior
S, A, T, B, violino I, violino II, viola, baixo contínuo e 2 trompas https://imslp.org/wiki/Missa_(Lobo_de_Mesquita%2C_Emerico)
3. Missa em Mi bemol Maior
S, A, T, B, violino I, violino II, viola, baixo contínuo e 2 trompas https://imslp.org/wiki/Missa_em_Mi_bemol_(Lobo_de_Mesquita%2C_Emerico)
4. Missa para quarta-feira de cinzas com violoncelo obbligato
S, A, T, B, violoncelo solo e baixo contínuo https://s9.imslp.org/files/imglnks/usimg/d/d6/IMSLP314338-PMLP507706-Missa_de_Quarta_feira_de_Cinzas_-_Lobo_de_Mesquita.pdf
5. Magnificat
S, A, T, B, violino I, violino II, viola, baixo contínuo, 2 trompas e 2 clarinetes
6. Tercio
S, A, T, B, violino I, violino II, baixo contínuo
Site: MÚSICA BRASILIS
7. Te Deum
S, A, T, B, violino I, violino II, baixo contínuo
8. Dominica in Palmis
S, A, T, B
9. Stabat Mater
S, A, T, B, violino I, violino II, baixo contínuo
10. Motetos e Miserere para Procissão dos Passos
S, A, T, B e baixo contínuo
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