Von Sanders Lau, Chordirigent, Hongkong
Wir Dirigenten sind gesegnet mit der Möglichkeit, Konzertprogramme als Form eines einzigartigen künstlerischen Ausdrucks zu gestalten. Ein durchdachtes Konzertprogramm wird nicht nur dazu beitragen, all die harte Arbeit, die wir und unsere Chormitglieder in die Vorbereitung gesteckt haben, erfolgreich zum Besten zu geben, sondern auch einen bleibenden Eindruck bei unserem Publikum zu hinterlassen. Wenn wir das Repertoire auswählen, müssen eine Menge Überlegungen angestellt werden, oft ist es ein Prozess bzw. das Ergebnis mehr oder weniger erfolgreichen Ausprobierens. Außerdem wird es nicht unbedingt leichter, auch wenn man beträchtliche Erfahrung und Expertise auf diesem Gebiet gesammelt hat, da die uns zur Verfügung stehenden Werke auch immer weiter zunehmen. Dieser Artikel zielt darauf ab, den Lesern einige erprobte und bewährte Tipps zu geben und Neulingen hoffentlich hilfreiche Einsichten zu verschaffen
Ausgewogenheit
Egal wie sich das Konzertprogramm zusammensetzt, versuche ich immer eine Balance in zweierlei Hinsicht zu schaffen: 1) Anspruchsniveau 2) musikalische Schlüsselelemente.
Wenn ich ein Konzertprogramm zusammenstelle, halte ich mich grob an ein Verhältnis von 1:2:1 bezüglich leichter, mittelschwerer und schwerer Stücke. Die nicht zu anspruchsvollen Stücke machen einen Großteil des Programms aus und nehmen ca.40% der gesamten Probenzeit ein. Sie sollen im Wesentlichen die momentane künstlerische Leistungsfähigkeit des Chores widerspiegeln. Obwohl die schwierigen Stücke einen kleineren Teil des Programms ausmachen, sollten diese weitere 40% der Probenzeit einnehmen, weil man mehr Zeit brauchen wird, ihnen den letzten Schliff zu geben. Diese Stücke sollen den Chor dazu bringen, seinen künstlerischen und technischen Ansprüchen gerecht zu werden. Das leichtere Stück sollte die kürzeste Probenzeit erfordern und dabei ein gutes Gefühl der Vollkommenheit vermitteln. Nachdem dies alles gesagt ist, besteht der erste und wichtigste Schritt darin, die Fähigkeiten unserer Sänger hinsichtlich Musikerfahrungen, Vom-Blatt-Singefähigkeit, Gehör und Ensemblesingen, Gesangstechnik usw. genau auszuwerten, um zu einem realistischen Probenplan und -tempo zu kommen.
Ich stimme meine Werkauswahl noch nach einem anderen Prinzip ab: ihr hauptsächliches musikalisches Interesse. Tatsächlich dreht sich fast alle Musik in der westlichen klassischen Tradition um 3 grundlegende Elemente: Melodie, Harmonie und Rhythmus. Es ist wichtig herauszufinden, welches Element am meisten dazu beiträgt, dass ein Werk einzigartig und mitreißend ist.
Zum Beispiel hat The Seal Lullaby von Eric Whitacre (*1970) eine faszinierende Melodie, ist aber rhythmisch nicht so interessant. Es hat wohl einige harmonische Klangfarben, aber ich würde die Melodie als treibendes Element hervorheben. Ein vom Rhythmus dominiertes Stück wäre das Alleluia von Jake Runestad (*1986), welches durchdrungen ist von schnellen und berauschenden Figuren und Taktwechseln. Paul Mealors (*1975) Locus iste ist aufgrund seiner reichen und ausgedehnten Harmonien ein exzellentes Beispiel für die Harmonie als treibendes Charakteristikum. Man muss jedoch bedenken, dass Stücke oft in mehr als einer dieser 3 Kategorien reizvoll erscheinen.
Der rote Faden
Unser Ziel ist es, ein zusammenhängendes Programm zu erstellen, um für unsere Zuhörer eine zufriedenstellende Konzerterfahrung zu kreieren. Es gibt in anderen Worten immer eine Art ‘Thema’, das alle Werke in einem Programm verbindet. Deshalb bietet es sich an, sich intuitiv für ein Thema zu entscheiden und dann nach Stücken zu suchen, die gut dazu passen. Eine andere Herangehensweise ist es, ein einzelnes zentrales Werk als Dreh- und Angelpunkt auszuwählen, aus dem man ein Thema ableitet und darum herum ein Programm aufbaut. Themen könnten folgendermaßen sein: Gefühle (z.B. Freude, Furcht, Hoffnung, Sorge), Natur (Jahreszeiten, Wasser, Feuer, Sterne, Blumen), menschliche Erfahrungen (z.B. Liebe, Tod, Krieg), Abstraktes (z.B. Frieden, Zeit, Dunkelheit); oder sie können sich mehr auf die Musik beziehen wie Epoche, Genre, Sprache, Literatur, Herkunft der Komposition usw. Und natürlich können diese kombiniert werden, um spezifischere Ideen zu bilden, so z.B. ‘Englische Chorlieder des 19. Jahrhunderts über Liebe und Hass’ oder ‘Werke von zeitgenössischen skandinavischen Komponisten über die Natur’.
Im unten angegebenen Link findet man zwei Beispiele von Programmen, die ich zusammengestellt habe.
Beispiel 1: ‘Glaube, Hoffnung, Liebe und Lobpreis’ für einen Jugendchor. Ich entschied mich für die Themen (ziemlich geradlinig, wie der Titel andeutet) und wählte dann ein paar Stücke für jeden Begriff, während ich die vorher erwähnte Ausgewogenheit beachtete.
Beispiel 2: ‘Unter den Schleiern des Nebels’ (Under the pale of mist) ist komplexer und für eine Gruppe von langjährigen Chorsängern. Der Ausgangspunkt war There Are Some Men, ein sehr kurzes Stück von Philip Glass (*1937). Dessen Text bildet das inspirierende Rückgrat des Programms, welches Stücke enthält, die nach den Themen im Gedicht ausgewählt wurden, also Nebel, Trauerlied, Liebende, Zeit und Stille, wodurch ein nicht-lineares Narrativ geschaffen wird, das wie Reflexionen über das Gedicht in einer zusammenhängenden Aura wirkt. Ich habe für Beispiel 2 auch die Programmerläuterungen als Referenz beigefügt. (Link: http://tinyurl.com/2ujzud96)
Repertoiresuche
Da es einen weiteren ausführlichen Artikel bräuchte, um dieses Thema umfassend zu behandeln, beschränke ich mich nur auf ein paar schnelle Tipps. Als erstes gibt es da die ‘Hasengrube-Methode’, wie ich sie nenne. Beginne damit, einfach eine Aufnahme eines Stücks, das dir gefällt, herauszunehmen und suche dann nach weiteren Aufnahmen, die entweder vom gleichen Komponisten, Chor oder Dirigenten sind. Sobald du eine andere interessante Aufnahme gefunden hast, gehe in gleicher Weise vor. Tu dies oft, dann wirst du bald ein Netzwerk von Repertoire besitzen, das deinem Geschmack entspricht,
Als zweites rate ich, ziemlich am Anfang deiner Chorlaufbahn eine Repertoire-Datenbank anzulegen und diese regelmäßig mit Stücken zu erweitern, die du schon aufgeführt hast und anderen, die du erst entdeckt hast. Am besten ist es, sie in verschiedene Kategorien zu gliedern je nach Schwierigkeitsgrad, musikalischem Hauptinteresse, Themen und anderen Informationen wie Dauer, Instrumentierung und Stimmen, Sprache, Epoche etc.
Schlussbemerkung
Ich hoffe, diese Tipps und Ideen helfen dir, das ‘richtige’ Programm für deine Chöre zusammenzustellen, aber sicherlich nicht minder wichtig ist es, einen ‘Aufhänger’ zu finden, der uns veranlasst das aufzuführen, was wir zusammengestellt haben. Vielleicht ist es die Botschaft, die das Programm vermittelt, oder wir haben schlicht und einfach eine große Leidenschaft für Werke aus einer bestimmten Epoche oder vielleicht gibt es ein Werk, das wir unbedingt aufführen wollen. Was auch immer es ist, wir müssen lieben, was wir tun. Nur dann werden wir diese Liebe unserem Chor und letztlich unserem Publikum überzeugend weitergeben können.
SANDERS LAU ist einer der gefragtesten Chordirigenten Hongkongs. Er ist der künstlerische Leiter und Gründer von NOĒMA, einem führenden Kammerchor, der einige von Hongkongs besten Chorsängern in sich vereint. Der Chor hat sich schnell als eine der dynamischten und innovativsten Kräfte in der großstädtischen Chorlandschaft etabliert. Sanders hat auch eng mit dem Chor Die Konzertisten als ihr ortsansässiger Chordirigent zusammengearbeitet, um den Chor auf Aufführungen vorzubereiten mit international angesehenen Dirigenten wie Stephen Layton, Jonathan Cohen, John Butt, und Maxime Pascal, die ein spezielles Interesse an Alter Musik in historischer Aufführungspraxis kultivieren. Sanders wird immer wieder als Gastdirigent und Juror eingeladen, und um Meisterklassen und Workshops für Organisationen wie das Hong Kong Arts Festival, Voices of Singapore Festival, Hong Kong Interschulisches Chorfestival, und Hong Kong Kinderchor zu geben. Sanders gewann 2023 den 1. Preis und zwei Sonderpreise beim 3. Internat. Romano Gandolfi Wettbewerb für Chordirigenten in Italien. sanders.lau@noema.hk
Übersetzt aus dem Englischen von Barbara Schreyer, Deutschland
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