Die heutige Chorwelt Australiens ist das Ergebnis der kulturellen Diversifizierung in der Chorkultur, die dieses Land nicht erst seit der Kolonialisierung erlebt. Selbstverständlich ist die Musikszene von heute ganz anders als noch vor einem Jahrhundert. In diesem Artikel werden die für Australien wichtigsten Akteure im Bereich Komposition vorgestellt und einige der Einflüsse aufgezeigt, die Komponisten in den 237 Jahren seit der Entdeckung des Landes ausgeübt haben.
Analog zu ähnlichen Entwicklungen in anderen Ländern, insbesondere die Länder, deren schriftliche Aufzeichnung als Kolonialstaat begann, sahen sich australische Künstler mit der Frage nach ihrer kollektiven und individuellen Identität konfrontiert. Zahlreiche Musiker der australischen Musiklandschaft haben in den frühen Tagen der Kolonialisierung ihre eigenen patriotischen Lieder zu komponieren versucht; viele folgten in jüngerer Zeit mit dem Versuch, einen einzigartigen klanglichen Ausdruck zu finden. Dies war vor allem im 19. Jahrhundert der Fall, als vorwiegend europäische Musiker nach Australien kamen, und könnte auch durch die geringe Interaktion dieser Musiker mit den australischen Ureinwohnern sowie der indigenen Flora und Fauna beeinflusst worden sein.
In musikgeschichtlichen Texten, die sich mit dem Status quo australischer Musik des 20. und 21. Jahrhunderts befassen, steht verhältnismäßig wenig darüber geschrieben, und erst recht nicht über australische Chormusik. Dies ist nicht auf einen Mangel an Komponisten oder Kompositionen zurückzuführen, sondern vielleicht vielmehr auf die geografische Lage des Kontinents und seine Entfernung zum Rest der Welt. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass obwohl die Europäer Australien ab 1787 zu besiedeln begannen, die Ureinwohner dieses Land schon seit über 65.000 Jahren bewohnen. Allerdings begannen australische Forscher verschiedenster Fachrichtungen, darunter Musikwissenschaft und Ethnomusikologie, erst im 20. Jahrhundert damit, sich mit der Geschichte des Landes vor 1787 zu befassen.
Ein umfassendes Werk von Graeme Skinner mit dem Titel „Toward a General History of Australian Musical Composition“ schildert das Leben und Schaffen prominenter Musiker seit der Kolonialisierung. So versuchten die ersten Siedler, ihre europäischen Traditionen einem Land überzustülpen, das keinerlei Ähnlichkeit mit Europa aufwies. Dieses Prozedere, das die traditionsreiche Geschichte der Ureinwohner vollkommen außer Acht lässt, setzte sich auch die nächsten 100 Jahre fort. Die Komponisten der Kolonialzeit schrieben Werke für Anlässe und Feierlichkeiten der Kolonialzeit. Zu den wenigen Namen, die in der frühen Kolonisationszeit für ihr – wenn auch geringes – chorisches Schaffen bekannt sind, gehören Isaac Nathan (1792-1864), William Vincent Wallace (1812-65), Stephen Marsh (1808-88) und Sidney Nelson (1800-61). Anzumerken ist, dass einige dieser Komponisten eine Reihe von Werken für Orchester und andere Instrumentalbesetzungen hinterlassen haben.
Anfang bis Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, als die Bevölkerung sich fast verdoppelte, erlebte das Land einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung. Mit dem gestiegenen intellektuellen Potenzial gingen auch erweiterte künstlerische Tätigkeiten einher. Das Land war nun nicht mehr so isoliert vom Rest der Welt und bemüht, seine eigene künstlerische Stimme zu finden. Auftragswerke wurden zahlreicher, was auch auf die sprungartige Zunahme von Chorverbänden seit Mitte des 19. Jahrhunderts zurückzuführen ist. Alfred Hill (1870-1960), Ernest Edwin Philip Truman (1869-1948), Percy Brier (1885-1970), G.W.L. Marshall Hall (1862-1915), Arundel Orchard (1867-1961), Mona McBurney (1862-1932), Florence Donaldson Ewart (1864-1949), Ernest Hutcheson (1871-1951) und George F. Boyle (1886-1948) gelten als herausragende australische Komponisten europäischer Stilrichtungen dieser Zeit. Wahrscheinlich verstanden sich die weißen Einwanderer an diesem Punkt der australischen Entwicklung eher als Untergruppe Großbritanniens denn als eigenständige Nation. Dezente Anklänge an einen australischen Nationalstil finden sich im Werk von Henry Tate (1873-1926), einem Zeitgenossen von Percy Grainger (1882-1961), der sich für die Erforschung der Musik der Aborigines einsetzte.
Das ganze 20. Jahrhundert über kämpften Komponisten – ob aus Europa eingewandert oder in Australien geboren – damit, ihre eigene künstlerische Stimme in diesem riesigen, trockenen Land zu finden, in dem es keine historischen Musikaufzeichnungen gibt. Mit der Gründung der Australian Broadcasting Commission im Jahr 1932 unter Leitung von Sir Bernhard Heinze wurde der Grundstein für Berufsorchester und -chöre gelegt. Dies bedeutete den Startschuss für eine Reihe von Komponisten der Sandwich-Generation, darunter Margaret Sutherland (1897-1984), Clive Douglas (1903-77), Robert Watson Hughes (1912-2007), John Antill (1904-86), Dorian Le Gallienne (1915-63), Martin Mather (1927-2007) und Peggy Glanville-Hicks (1912-90).
Die 1960er und 70er Jahre brachten eine Fülle von australischer Orchester- und Kammermusik hervor, während das Chorgenre praktisch unberührt blieb. Die 1980er Jahre, als Kammerchöre florierten und nach anspruchsvoller neuer Musik drängten, lieferten jedoch ausreichend Inspiration für eine neue Generation von Komponisten, die Chormusik als geeignetes Medium für wichtige musikalische Botschaften ansahen. Da nur wenige traditionelle Modelle vorlagen, konnten diese Komponisten ungehindert mit dem Medium Chor experimentieren. Sie stützten sich dabei auf den Erfahrungsschatz anderer Kulturen und schufen so eine Vielzahl von textuellen Erkundungen.
In den 1960er Jahren wuchs eine spannende neue Gruppe von Komponisten heran, die zu einem originären Konzept australischer Musiksprache beitrugen. Dazu gehörten der in Russland geborene Larry Sitsky (geb. 1934), der in Deutschland geborene Felix Werder (1922-2012), Wendy Morrissey (1926-2005), Peter Sculthorpe (1929-2014), Richard Meale (geb. 1932), Colin Brumby (1933-2018), Nigel Butterley (1935-2022) und Jennifer Fowler (geb. 1939).
Es sind die Chorwerke von Sculthorpe, in denen erstmals Innovation und ein gewisses Maß an Anerkennung für Australien vor der Kolonialisierung zu spüren sind. Im Rahmen seines Harkness-Stipendiums an der Yale University, USA, komponierte Sculthorpe Sun Music for Voices and Percussion (1966), geschrieben für SATB-Chor, Klavier und drei Perkussionisten. Obwohl das Werk von rhythmischen Motiven bestimmt ist, entstanden durch die Erkundung verschiedener Parameter in Klangkombinationen der menschlichen Stimme für damalige Verhältnisse vollkommen neuartige Klangcluster. In den Jahren 1972-3 komponierte Sculthorpe die Oper Rites of Passage, in der er sich mit den Konzepten des Genres zur Zeit von Jean-Baptiste Lully auseinandersetzte. Diese Oper war für die Eröffnung des Sydney Opera House geplant. Chorgesang und Tanz verschmelzen mit Poesie und szenischen Effekten. Für den Text der Choräle verwendete Sculthorpe Boethius' De consolation philosophiae, für den Text der Rites eine Auswahl von Gedichten in Lower Aranda (Sprache der Stammesgruppe aus der Region Arrernte in Zentralaustralien). Sculthorpes musikalische Sprache reflektiert die physikalischen und klimatischen Charakteristika des australischen Outbacks sowie das Gefühl von Einsamkeit, das diese Landschaft nicht selten weckt.
Der Einfluss, den Peter Sculthorpe auf australische Komponisten sowohl im Hinblick auf den Stil als auch die Denkweise ausgeübt hat und noch weiter ausübt, ist enorm. Zwei der Studenten, die während seiner ersten Jahre an der University of Sydney von ihm unterrichtet wurden, sind für ihre Gesangskompositionen bekannt. Ross Edwards (geb. 1944) und Anne Boyd (geb. 1946) führen die kompositorischen Überlegungen auf der Suche nach Innovation und Originalität weiter. Es gilt, sich von den alten europäischen und amerikanischen Vorgaben zu lösen.
Die Schriften von Lady Sarashina (geb. 1008 n. Chr.), einer japanischen Adeligen aus dem 11. Jahrhundert, inspirierten Boyd zu As I Crossed a Bridge of Dreams (1975). Darin wählt Boyd drei von Lady Sarashinas stimmungsvollen Texten über Träume, die sie mit Summgeräuschen musikalisch untermalt, um eine Art Musikmeditation zu kreieren. Boyd experimentiert mit Licht als Fokus jedes der Buddhas in den Träumen und zur Überleitung zu musikalischen Klängen, die von den Musikinstrumenten des gagaku geprägt sind.
Im Gegensatz dazu präsentieren sich die Werke von Edwards minimalistisch. Sie spiegeln die Feinstruktur der australischen Flora und Fauna wider. Dies zeigt sich in seinem maninya Stil, der in seinen Flower Songs (1986-7) zum Ausdruck kommt. Der für einen 16-stimmigen SATB-Chor und zwei Perkussionisten geschriebene Text ist eine Folge wissenschaftlicher lateinischer und griechischer Bezeichnungen verschiedener zentralostaustralischer Wildblumen. Seine Vertonung des Textes erinnert an Garten- und Landschaftsbau: Kurze Motive werden wiederholt, übereinandergelegt und gegenübergestellt und schaffen so eine hypnotische Stimmung. Edwards' Dawn Mantras (2000), die am ersten Tag des neuen Jahrtausends bei Sonnenaufgang auf den Segeln des Sydney Opera House uraufgeführt wurden, verbinden verschiedenste Klangfarben zu einem harmonischen Ganzen. In dem Werk entstehen Dialoge zwischen Shakuhachi, Tenorsaxophon, Didgeridoo, Schlaginstrumenten, Kindersopransolo, Kinderchor und Männerchor, die mit Texten aus dem asiatisch-pazifischen Raum kombiniert werden.
Die hier vorgestellten Komponisten und Werke sind lediglich ein Abriss der australischen Chorkomposition bis in die 1990er Jahre und eine gute Repräsentation des sich ständig weiterentwickelnden Chorgesangs. Die jüngeren Werke zielen bewusst auf eine Neugestaltung des „Australischen“ zu Gunsten einer übergeordneten pazifischen Identität ab.
Dr. Debra Shearer-Dirié ist Dirigentin, Musikpädagogin und Sängerin mit Sitz in Brisbane. Ihr beruflicher Werdegang hat sie von Ungarn über Westeuropa bis hin nach Nordamerika und Australien geführt. Sie studierte an der Indiana University, USA, wo sie einen Master of Music Education und einen Doktortitel in Chordirigat erwarb. Bevor sie 2003 nach Brisbane wechselte, leitete Debra den Kinder- und Jugendchor der Indiana University, war Stellvertreterin von Musikdirektor Paul Hillier bei den Pro Arte Singers und zwei Jahre lang als Leiterin des International Vocal Ensemble der Indiana University tätig. Zwischen 2001 und 2002 war Debra auch Musikdirektorin des Northwest Girlchoir im US-amerikanischen Seattle, einer 400-stimmigen Organisation von jungen Frauen, die häufig zusammen mit dem Seattle Symphony Orchestra konzertierte. 2005 wurde sie als Musikdirektorin des Brisbane Concert Choir berufen, 2006 gründete sie den Vox Pacifica Chamber Choir und 2009 Fusion, ein semiprofessionelles A-cappella-Ensemble für Erwachsene. Ihr jüngstes Vokalensemble ist Vintage Voices, ein Programm für ältere Menschen, die sich durch das Singen in die Gemeinschaft einbringen wollen. Nach Möglichkeiten zur musikalischen Zusammenarbeit mit der breiteren Künstlerszene sucht die leidenschaftliche Musikerin immer. Debra ist eine Abenteuerin und feiert ihre weltweite Musikkarriere. Sie lebt für die kreativen Herausforderungen, die sich aus Musikprojekten mit anderen Chören, Komponisten, Tänzern, bildenden Künstlern und Kulturschaffenden ergeben. Denn für sie ist die Herausforderung oft genauso erfüllend wie die Musik selbst. debrashearer@gmail.com
Übersetzt aus dem Englischen von Magdalena Lippingwell, UK
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