Den Namen Esteban Salas verbinde ich, seit ich denken kann, mit meiner musikalischen Biographie. Seit meinem Eintritt in das Konservatorium der Stadt Santiago de Cuba, das bis heute seinen Namen trägt, und als Mitglied des Orféon Infantil, wo ich zum ersten Mal zwei seiner berühmtesten Villancicos kennenlernte und aufführte: Una Nave Mercantil und Claras Luces.
Zu unterschiedlichen Zeitpunkten meines Musikstudiums und als Sänger diverser Vocalensembles wie dem Orféon Santiago, dem Kammerchor Exaudi und als aufmerksamer Beobachter der musikalischen und forschenden Aktivitäten des Alte Musik-Ensembles Ars Longa aus Havanna, sowie viel später als Chorleiter, hatte ich nicht nur Gelegenheit, seine Villancicos aufzuführen, sondern auch einen großen Teil seiner kirchenmusikalischen Werke in unterschiedlicher Art und Weise aufzuführen – abhängig von den Ressourcen, die in sängerischer und materieller Hinsicht zur Verfügung standen. Vor allem die fehlende fundierte und systematische musikwissenschaftliche Untersuchung seines Werks machte die Aufführungspraxis schwierig.
Erst Ende der 1990er Jahre begann die Erforschung und Aufführung von Salas‘ Werk –mit der kubanischen Musikwissenschaftlerin Miriam Escudero und dem Ensemble Ars Longa aus Havanna, einem Alte-Musik-Ensemble, das sich unter der Leitung von Teresa Paz und Aland López auf Salas spezialisierte. Ars Longa gab Konzerte und nahm CDs auf und bildete Salas‘ Werk in systematischer und kohärenter Art und Weise ab.
WER WAR ESTEBAN SALAS?
Esteban Salas y Castro, 1725 in Havanna geboren, war der erste große professionelle kubanische Musiker, dessen Werk nahezu vollständig dokumentiert ist. Salas wurde auf der Violine, im Orgelspiel, in Komposition, Kontrapunkt und Cantus Planus ausgebildet. Er vervollkommnete seine Ausbildung mit Studien in Philosophie, Theologie und kanonischem Recht. Im Jahr 1764 lässt er sich in Santiago de Cuba nieder, um dort die Stelle als Kapellmeister anzutreten. Diesen Posten hatte er bis zu seinem Tod im Jahr 1803 inne..
SEINE MUSIK
Sein Werk, das gänzlich seiner Tätigkeit als Kapellmeister verschrieben ist, umfasst gemäß einiger aktueller Studien bis zu 103 kirchenmusikalische Werke, die sowohl liturgisch als auch nicht liturgisch sind.
Die erste Kategorie enthält Messen, Motetten, Hymnen, Salven und autos sacramentales [eintaktiges Theaterstück, das im spanischsprachigen Raum traditionell zu Fronleichnam gespielt wurde, Anm. der Üb.] in lateinischer Sprache. Die zweite Kategorie umfasst Kantaten, Pastorellen und Villancicos, wobei letztere sein bevorzugtes Genre darstellten, bei dem er nicht nur als Komponist, sondern auch als Dichter in der Volkssprache in Erscheinung tritt.
ESTEBAN SALAS SINGEN
Die Aufführung dieser Musik ist an sich eine künstlerische und pädagogische Herausforderung für den Chorleiter. Denn sie setzt Kenntnis und Beherrschung aller ästhetisch-musikalischen Aspekte des Barock – der Epoche Salas‘ – voraus. Nur mit dieser Grundlage können Hilfen für die Erarbeitung gefunden werden, die es dem Sänger erlauben, sich der Partitur in ihrem musikgeschichtlichen Kontext auf praktische und direkte Weise zu nähern.
DAS VOKALENSEMBLE
Das damals herrschende Verbot von weiblichem Gesang in der Kirche zeigt sich deutlich in den verschiedenen Besetzungen, die Salas verwendete, und der Nomenklatur der einzelnen Stimmen, die explizit aufgeführt und durch Tessitur und musikalisch-expressive Funktion spezifiziert werden. Er bezeichnet sie als Tiple, Alto, Tenor und Bass. Erstere wurde von Knabenstimmen gesungen, der Alto von einer Stimme, die wir heute im Allgemeinen als Countertenor bezeichnen würden. Der Tenor war das, was wir heute als Heldentenor einordnen würden. Der Bass ist mal in funktionaler Weise mit dem Basso Continuo notiert, mal unabhängig. Das erfordert eine durchsetzungsstarke und bewegliche Stimme, was Charakter und Ausdruck anbelangt – ein gesanglicher Bass, wie man heute sagen würde.
Für einen Chor, dessen Schwerpunkt nicht die historische Aufführungspraxis ist, kann ein Zugang zur Musik von Salas nur gelingen, wenn man die Stimmgruppen neu zusammensetzt. Der Alt muss bezüglich des Timbres Zentrum und Referenzpunkt sein. Hier sollte eine Mischung aus zweitem Alt, Countertenören, hohen Tenören (Tenorino, Altino) vorgenommen werden – falls man im Chor über solche Stimmen verfügt. Um den Tenor zu vervollständigen, können auch ein oder zwei Baritone mit hellem Timbre und beweglicher Stimme genommen werden. Sopran und Bass werden wie sonst auch besetzt, insofern keine Tessitur verlangt wird, die besonders schwer ist und die Möglichkeiten und Gewohnheit der Stimmgruppen übersteigt. Wenn es dennoch so ist, gibt es zwei Möglichkeiten:
Liturgische Musik: die Gesangspartien mit Instrumenten desselben Registers und derselben Klangfarbe verstärken oder/und einen Mezzosopran oder Alt 1 zum Sopran hinzufügen, in den Bässen einen Tenor mit einer massiveren Stimme.
nicht liturgische Musik: Im Sopran Mezzosoprane einsetzen, im Tenor Baritone und Tenöre – letzteres aber nur als Ausnahme bei den Villancicos, Kantaten und Pastorellen, bei denen kein Bass existiert.
STIMMUNG UND TEMPERAMENT
Die Verwendung des gregorianischen Chorals ist in Salas‘ liturgischer Musik offensichtlich – sei es explizit im Incipit jeder Motette, in Teilen der Messe oder dem Requiem, um nur einige Beispiele zu nennen. Der gregorianische Choral findet sich aber auch als melodisch-rhythmisches Material, das kaum merklich in den Mittelstimmen verwendet wird und versteckt in den Intonationen und melodisch-harmonischen Funktionen im polyphonen Geflecht auftaucht. Das lädt zu Überlegungen bezüglich der Notwendigkeit einer Einheit des Temperaments zwischen Tradition und Kreativität ein, die der Interpretation eine Projektion und Klangfarbe gibt, die der Vorstellung Salas‘ nahekommen könnte.
Die Erfahrung, diese Musik mit verschiedenen Schwerpunktsetzungen gesungen und gehört zu haben, die sich durch den gesamten Prozess der Einstudierung, Interpretation und Aufführung ziehen, weckte bei mir Zweifel, die sich später als berechtigt erwiesen. Die Hör- und Intonationspraxis der Sänger entsprechend dem Temperament und den akustischen Besonderheiten der damaligen Blasinstrumente und insbesondere der Orgel, die für die Durchführung und Begleitung der Liturgie unerlässlich sind, dienten als wichtige Ausgangspunkte und unterstützten sie und wird uns nicht nur helfen, das Wesen der Partitur besser zu verstehen, sondern auch den Beginn des Weges hin zu einem akustischen Konzept im Einklang mit der ästhetisch-musikalischen Natur der Zeit darstellen.
In den nicht-liturgischen Kompositionen ist die Tatsache gegeben, dass man sich nicht durchgängig an strenge Regeln halten muss und sie von der weltlichen Musik der neapolitanischen Schule beeinflusst sind, die durchgängig obligate Violinen verwendet, und dadurch eine größere Flexibilität und ein ungezwungenerer Charakter des musikalischen Diskurses erzielt. Die Intonation tritt deshalb zugunsten einer Virtuosität in den Violin- und Solopartien in den Hintergrund. Der Text wird mithilfe von musikalischer Rhetorik, kontrastierendem Charakter und wechselnden Tempi illustriert, sowohl in Chören und Couplets als auch in Da-Capo-Arien und Rezitativen.
Salas‘ persönlicher Stil kommt besonders in den Villancicos mit ternärem Muster zum Ausdruck. Immer inspiriert von dem liturgischen Moment, für den sie geschrieben wurden, komponierte er sie auch als “Chronik und musikalischen Exorzismus” zu Ereignissen wie Naturkatastrophen, die die Stadt verwüsteten – mit schwerwiegenden Folgen für ihre Bewohner. Auch die Kathedrale wurde in Mitleidenschaft gezogen – zahlreiche Brände und Einstürze setzten dem Gotteshaus zu und vernichteten vermutlich einen Teil des Salas‘schen Werks.
DAS INSTRUMENTALENSEMBLE
Als Esteban Salas seine Stelle an der Kathedrale antrat, soll er nur ein kleines Ensemble angetroffen haben, das aus drei Sopranen, zwei Altisten, zwei Tenören, zwei Violinen, einer Violone, zwei Fagotten, einer Harfe und einer Orgel bestand. Das gibt uns eine Vorstellung, welche Instrumente idealerweise seine Kompositionen begleiten oder welche hinzugefügt oder weggelassen werden sollten, um Stimmen hervorzuheben, Klangfarben zu erschaffen, ihnen Kraft oder Brillanz zu verleihen und einige dieser Instrumente zu verdoppeln oder zu ersetzen, je nach Art der Musik.
Im Werk Esteban Salas‘ finden wir Musik verschiedener Stilrichtungen und Arten, die zeigen, wie bemüht er war, das zu beherrschen und zu überwinden, was ihm vorausging. Man erkennt sogar Züge von dem, was seine europäischen Zeitgenossen machten. Um seine Musik zu verstehen und zu interpretieren, muss man als Referenz diejenigen suchen, die ihm vorausgingen, mit ihm zusammenlebten und seine Nachfolge antraten, und dabei die historische musikalische Kluft zwischen Amerika und Europa berücksichtigen.
Seine Arbeit als Kapellmeister, Priester und Lehrer für Morallehre, Philosophie und Musik im Seminar von San Basilio Magno in Santiago de Cuba machten Esteban Salas zu einer Autorität und geschätzten und respektierten Person für seine Gemeindemitglieder und die Bürger der Stadt.
Der Weg zum vollständigen Wissen, Verstehen und Interpretieren seiner Musik hat gerade erst begonnen, und wir werden sicherlich neue und unterschiedliche Interpretationsansätze hören, die uns nicht nur dazu bringen werden, darüber nachzudenken, wie, sondern auch wann, was, wofür und womit wir sie singen und spielen sollen und auf welche Weise. Jede Interpretation hat ihre Berechtigung, solange das Wesentliche nicht verloren geht.
Der Dirigent muss jedes Mal umfassendes Wissen einbringen, um alle expliziten und impliziten Informationen, die in jeder Partitur zu finden sind, optimal zu nutzen. Es liegt in seiner Hand, eine zunehmend erneuerte und aktualisierte Musik ans Licht zu bringen.
Zum Schluss eine Anekdote, in der sich der unschuldige Sarkasmus eines unerfahrenen Studenten schließlich in die Fragen eines Profis verwandelt, der nach Antworten, Lösungen und stilistischen Parallelen sucht:
Als ich mit dem Kammerchor der Nationalen Musikschule Toquen presto a fuego probte, ein Villancico mit festlichem, energiegeladenem und brillantem Charakter, schaute mich einer der Cellisten an, nachdem er einen Abschnitt der Violinen gehört hatte, in dem unsere Dirigentin einen bestimmten Strich und eine bestimmte Dynamik forderte, und sagte: „Esteban Salas Amadeus Mozart“...
Geboren in Santiago de Cuba, begann Enrique Filiu O’Relly seine musikalische Laufbahn am Conservatorio Esteban Salas und setzte seine Ausbildung an der Escuela Nacional de Música mit dem Fach Chorleitung bei Alina Orraca fort. Außerdem studierte er an der National Academy of Music Pancho Vladigerov in Sofia, Bulgarien, und dem Higher Institute of Art in Havanna. Enrique Filiu O`Relly war Leiter des Kammerchors der Escuela de Música de Santiago de Cuba und des Frauenchors der Escuela Nacional de Música von Havanna, außerdem war er auch Assistent der Chorleitung des Orféon Santiago, das von Electo Silva geleitet wurde. Enrique Filiu O`Relly ist Mitglied der Schola Cantorum Coralina und des Kammerchors Exaudi Havanna sowie Leiter und Gründer der Camerata Vocale Sine Nomine. Er war Leiter der Chöre Torrecanto (2006-2019), Magerit, seit 2007 war er außerdem Studioleiter des Startups Singerhood für die Aufnahme von Chor-Midis mit echten Stimmen.
Als Gastdirigent des Chors Cristóbal de Morales, von Aldebarán, Vox Absona (Dänemark), des Getafe Polyphonic Choir und Virgen de la Paloma hat er kubanische Chormusik-Workshops in Madrid, Saragossa und Kopenhagen gegeben. enriquefiliu@gmail.com
Übersetzt aus dem Spanischen von Justine Gehring-Plaum, redigiert von Isabelle Métrope
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